ADHS – vier Buchstaben, und sofort haben viele das gleiche Bild im Kopf: ein Kind, das auf seinem Stuhl rumzappelt, laut reinruft und ständig seine Hausaufgaben vergisst. Klar, kann passieren. Aber die sogenannte „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ – über den Namen reden wir später noch – ist weit mehr, als viele glauben. Und vor allem: Es hört nicht einfach auf, wenn man erwachsen wird.

Trotzdem gibt’s immer noch jede Menge Halbwissen zu dem Thema. ADHSler seien einfach nur unorganisiert, hätten keine Selbstdisziplin oder würden sich halt „nicht genug zusammenreißen“. Manche halten es für einen übertriebenen „Trend“, andere für eine bequeme Ausrede für Faulheit. Dabei zeigt die Forschung längst, dass ADHS weit mehr ist als eine Konzentrationsstörung und dass es gerade im Erwachsenenalter oft ganz anders aussieht, als die gängige Vorstellung vermuten lässt.

In diesem Blogpost möchte ich mit den größten Missverständnissen über ADHS aufräumen, die echten Herausforderungen beleuchten und die Stärken sichtbar machen, die oft hinter den Klischees verborgen bleiben. Und weil ich selbst mit ADHS lebe, teile ich hier nicht nur wissenschaftliche Fakten, sondern auch meine ganz persönlichen Erfahrungen – mit all ihren Höhen, Tiefen und Aha-Momenten.

Die verzerrte Wahrnehmung von ADHS

Besonders Menschen, die sich nicht wirklich viel mit dem Thema auseinandersetzen, haben ein sehr einseitiges Bild von ADHS. Für sie ist das diese „neumodische“ Diagnose, die früher einfach mit „mehr Disziplin“ oder „besserer Erziehung“ gelöst wurde. Kein Wunder also, dass man von ihnen immer wieder dieselben Sätze hört, wenn es um das Thema geht:

„Das haben doch nur Kinder“ – Weil (leider) immernoch viele denken, ADHS sei eine Phase, aus der man irgendwann „rauswächst“.

„Das sind doch diese hyperaktiven Jungs, die nicht stillsitzen können“ – Dabei gibt es auch den unaufmerksamen Typ, der weniger auffällt, sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen.

„Ach komm, das ist doch nur eine Mode-Diagnose“ – Klar, ADHS wird heute öfter diagnostiziert als früher. Aber das liegt nicht daran, dass plötzlich jeder ADHS „haben will“, sondern dass das Wissen darüber endlich besser wird.

„Du musst nur achtsamer sein“ – Als wäre das Problem, dass man zu wenig auf seine Umgebung achtet. In Wahrheit ist es sehr oft genau andersrum: Das Gehirn nimmt zu viele Reize gleichzeitig wahr und kann sie nicht richtig filtern. (Aber dazu kommen wir noch)

„Reiß dich halt mal zusammen“ – Oh, wenn’s doch nur so einfach wäre.

Das Ding ist: ADHS ist kein Trend, keine Ausrede und auch keine simple Verhaltensfrage. Es ist eine neurologische Besonderheit, die sich bei jedem anders zeigt und weit über das stereotype Bild des zappeligen Kindes hinausgeht. Genau deshalb wird es immer noch viel zu häufig übersehen – besonders bei denen, die nicht ins vermeintliche Schema passen.

Mein Weg zur Diagnose

Ich wusste innerlich eigentlich schon seit ein paar Jahren, dass ich ADHS habe. Meine Therapeutin hatte es damals schon gesagt, und je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto klarer wurde es für mich. Ich habe mich in unzähligen Erfahrungsberichten wiedergefunden, erkannt, wie sich bestimmte Muster durch mein ganzes Leben ziehen, und es hat einfach Sinn ergeben.

Aber natürlich ist das so eine Sache. Wenn du keine offizielle Diagnose hast, nehmen es viele Leute nicht wirklich ernst. Mein Freund meinte auch immer wieder: „Lass es doch mal offiziell abklären, dann hast du Gewissheit.“ Und ja, ich verstehe, warum manche skeptisch sind, vorallem auf Social Media scheint mittlerweile jede zweite Person ADHS zu haben. Ich kann das Misstrauen also irgendwo nachvollziehen.

Aber wenn du es wirklich fühlst, wenn du merkst, dass gewisse Dinge sich immer wieder wiederholen, dass du anders funktionierst als viele andere und es nicht nur Einbildung ist, dann ist das mehr als nur eine Selbstdiagnose. Als mir mein Psychiater schließlich die offizielle Diagnose gab, war es kein Schock. Es war eher ein Moment der Erleichterung. Endlich schwarz auf weiß. Endlich das Gefühl, ernst genommen zu werden, nicht mehr das Bedürfnis, sich ständig erklären oder rechtfertigen zu müssen. Jetzt kann ich bewusster damit umgehen, sowohl für mich selbst als auch im Umgang mit anderen.

Die typischen Missverständnisse über ADHS

Wenn man Leuten von seinem ADHS erzählt, kommt oft ein gut gemeinter Ratschlag: „Vielleicht solltest du einfach mal mehr Achtsamkeit üben.“ Klingt nett! Bringt aber ungefähr so viel, wie einem Fisch zu sagen, er soll doch einfach mal tief durchatmen und ans Land kommen.

Das Problem ist nicht, dass Menschen mit ADHS nicht achtsam genug sind oder ständig in der Zukunft oder Vergangenheit leben. Im Gegenteil, wir können extrem präsent sein. Wenn uns etwas fesselt, tauchen wir mit voller Intensität ein: Ein Buch, ein tiefes Gespräch, ein Thema, das unser komplettes Denken vereinnahmt.

Was uns aber leider oft fehlt, ist die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit gleichmäßig zu verteilen. Während andere ein Buch lesen und gleichzeitig noch bewusst wahrnehmen, dass sie ein Glas Wasser in der Hand haben, steckt unser gesamter Fokus entweder im Buch oder beim Glas, wenn es uns plötzlich aus der Hand fällt.

Das eigentliche Problem ist also, dass unser Gehirn selten stillsteht. Es läuft permanent auf Hochtouren, springt von Gedanken zu Gedanken, oft ohne, dass wir es bewusst steuern können. Wir können uns also unglaublich fokussieren aber nur, wenn unser Gehirn sich „freiwillig“ für etwas entscheidet. Und wenn das nicht passiert? Dann fühlt es sich an, als hätte unser Kopf eine Fernbedienung ohne Pause-Taste, bei der jemand stämdig auf „Nächstes Kapitel“ drückt. Gedanken überlagern sich, konkurrieren um Aufmerksamkeit, und plötzlich vergessen wir, was wir eigentlich gerade tun wollten

Achtsamkeit ist für uns also nicht unmöglich, sie folgt nur oft ihren eigenen Regeln. Unser Gehirn ist nicht unaufmerksam, sondern hyperfokussiert auf das, was es gerade spannend findet. Genau das macht klassische Achtsamkeitsübungen so schwierig: Während andere entspannt ihre Gedanken ziehen lassen, kämpfen wir eher damit, sie überhaupt erst mal zu sortieren und zu verlangsamen.

„Jeder hat doch mal ADHS“

Sätze wie „Ich bin auch manchmal verpeilt“ oder „Ich kann mich auch nicht immer konzentrieren“ sind gut gemeint. Klar, jeder kennt Momente der Unaufmerksamkeit aber genau das ist der Unterschied: Bei ADHS ist es kein gelegentliches Phänomen, sondern ein Muster, das sich durch das gesamte Leben zieht und den Alltag auf allen Ebenen beeinflusst. Es geht nicht nur um Vergesslichkeit oder Chaos, sondern um ein Zusammenspiel vieler verschiedenen Faktoren.

„ADHS ist doch nur eine schlechte Angewohnheit“

Manche denken, es sei einfach eine Sache der Selbstdisziplin. Wenn man sich nur genug anstrengen würde, dann könnte man doch einfach… „richtig“ funktionieren. Spoiler: Nope. ADHS ist keine Charaktereigenschaft oder eine Frage der Willenskraft. Es ist eine neurologische Variante, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und darauf reagiert.

Das bedeutet nicht, dass Menschen mit ADHS nichts auf die Reihe bekommen. Es heißt nur, dass viele Strategien, die für neurotypische Menschen wunderbar funktionieren, für uns schlicht nutzlos sein können.

Warum klassische Organisationsmethoden bei ADHS oft nicht funktionieren

Viele Menschen schwören auf To-Do-Listen, Zeitpläne und Struktur. Und ja, in der Theorie sind das alles großartige Tools, wenn das Gehirn sie richtig verarbeitet. Das Problem? Unser Gehirn sieht eine Liste nicht automatisch als Erinnerung, es sieht einfach eine Liste. Wenn sie nicht gerade aktiv in unserem Fokus ist, existiert sie quasi nicht.

Ich zum Beispiel habe unzählige To-Do-Listen in meiner Notiz-App. Das Problem? Ich vergesse ständig, sie zu öffnen. Deshalb habe ich mir eine andere Strategie ausgedacht: Ich stelle mir für alles Wecker. Und ich meine alles. Wenn ich weiß, dass ich an einem bestimmten Tag etwas erledigen muss, gibt es dafür einen Alarm um 14 Uhr, einen um 16 Uhr, einen um 18 Uhr… Das geht so lange, bis ich’s entweder wirklich mache oder aus purer Genervtheit wegdrücke. Funktioniert zwar für mich, kann aber meine Mitmenschen manchmal in den Wahnsinn treiben.

Aber mein persönlicher Favorit unter meinen Chaos-Management-Techniken? Mein Flashlight-Benachrichtigungssystem. Mein Handy blinkt jedes Mal auf, wenn ich eine Nachricht bekomme oder jemand anruft. Das hat zwei Vorteile:

  1. Ich verpasse weniger Nachrichten.
  2. Ich finde mein ständig verschollenes Handy wieder. Einfach alle Lichter ausmachen und schauen, wo das Blinken herkommt. Simpel, aber effektiv. (Und ja, auch das verwirrt manchmal die Menschen um mich herum, aber hey, es funktioniert wenigstens!)

Für viele mag das seltsam wirken, aber genau das ist der Punkt: ADHS erfordert andere Lösungen, nicht einfach mehr Disziplin.

Und genau darum geht’s: ADHS bedeutet nicht, dass man unfähig ist. Es bedeutet, dass das Gehirn einfach eine andere Art braucht, mit der Welt klarzukommen. Während klassische Organisationstechniken für viele Menschen perfekt funktionieren, sind sie für uns oft nutzlos, weil unser Gehirn Informationen anders verarbeitet.

ADHS: Mehr als nur Unaufmerksamkeit

ADHS beeinflusst, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, Emotionen steuert und Entscheidungen trifft. Es kann sich anfühlen, als würde das eigene Denken manchmal gegen einen arbeiten, als hätte das Gehirn seinen eigenen Kopf, der bestimmt, was gerade wichtig ist.

Egal, ob es darum geht, eine Aufgabe anzufangen, im Gespräch bei einem Thema zu bleiben oder einfach nur alltägliche Routinen einzuhalten: ADHS macht das Leben oft chaotischer, intensiver und manchmal auch ziemlich anstrengend. Dinge, die für andere selbstverständlich sind, fühlen sich mit ADHS oft an wie ein endloser Kampf gegen ein unsichtbares Chaos.

Doch wie genau äußert sich das im Alltag?

Struktur, Zeitgefühl, Prioritäten? Ein täglicher Kampf

ADHS kannst du dir auch vorstellen wie einen guten PC ohne geordneten Desktop – unglaublich schnell, aber ständig auf der Suche nach der richtigen Datei. Zeitgefühl? Eher eine vage Idee als eine verlässliche Größe. Entweder scheint man unendlich viel davon zu haben, oder sie rast unkontrolliert davon, bis die Deadline bedrohlich nah ist.

Dinge frühzeitig anzugehen, klingt theoretisch sinnvoll, aber praktisch gibt es meist nur zwei Zustände: sofort loslegen oder ewig aufschieben. Und Prioritäten setzen? Das fühlt sich an wie ein Raum voller blinkender Lichter und lauter Signaltöne, jedes davon scheint gerade gleich dringend. Während andere Aufgaben logisch nach Wichtigkeit sortieren, springt das ADHS-Hirn zwischen Projekten hin und her, nicht aus mangelndem Willen, sondern weil es schlicht nicht entscheiden kann, worauf der Fokus zuerst gelegt werden soll.

ADHS uind Prioritäten

Von Begeisterung zu Vergessen in Rekordzeit

Das zeigt sich besonders, wenn es um neue Interessen oder Hobbys geht. Ich kann mich von einer Sache total begeistern lassen, sehe ein paar Videos dazu, und plötzlich bin ich überzeugt: Das ist jetzt mein Ding!

Vor einiger Zeit habe ich mir z.B voller Motivation ein Häkel-Set bestellt, weil ich dachte: „Oh mein Gott, ich werde jetzt Häkeln lernen!“ Ich habe es zweimal angefasst und seitdem liegt es in der Ecke. Vergessen. Existiert praktisch nicht mehr. Und das ist (leider) kein Einzelfall.

Es passiert so oft, dass ich mir für ein neues Projekt extra Material kaufe, nur um dann plötzlich das Interesse zu verlieren oder ungeduldig zu werden, weil ich es nicht direkt kann. Und wenn es mich nicht mehr reizt, dann ist es, als würde mein Gehirn es einfach aus dem System löschen.

Das Dopamin-Dilemma: Warum das Gehirn immer nach mehr sucht

Ein Grund dafür ist das Ungleichgewicht von Neurotransmittern wie Dopamin, das für Motivation und das Belohnungssystem verantwortlich ist. Bei Menschen mit ADHS ist dieses System oft weniger effizient, was dazu führt, dass wir ständig auf der Suche nach neuen Reizen sind, um den Dopaminmangel auszugleichen. Mehr dazu kannst du hier nachlesen: ADHS – Störungen des Dopaminsystems.

Das erklärt nicht nur, warum Menschen mit ADHS schneller gelangweilt sind und immer nach neuen Impulsen suchen, sondern auch, warum sie anfälliger für Suchtverhalten sein können. Ob Social Media, Koffein, Drogen oder andere Formen der schnellen Belohnung. Das Gehirn sucht nach Wegen, den Dopaminmangel auszugleichen, oft ohne dass man es bewusst merkt.

Emotionale Dysregulation und Impulsivität

ADHS betrifft auch die Emotionen, und zwar auf eine Art, die für viele schwer nachzuvollziehen ist. Ein kleiner Rückschlag kann sich anfühlen, als wäre alles gegen einen. Ein unbedachter Kommentar kann den ganzen Tag ruinieren. Und dann gibt es diese Momente, in denen eine Emotion so plötzlich und intensiv kommt, dass sie alles andere überlagert – Freude, Wut, Frust, Euphorie. Es gibt selten ein Dazwischen.

Dieses Phänomen zeigt sich besonders in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Menschen mit ADHS haben oft eine schwächere Impulskontrolle, was bedeutet, dass Gedanken schneller ausgesprochen werden, als das Gehirn sie filtern kann. Während andere ihre Worte bewusst wählen, kommt bei ADHS die Antwort oft direkt raus, nicht aus Absicht, sondern weil die spontane Reizverarbeitung einfach schneller ist als der innere Kontrollmechanismus. Das liegt tatsächlich daran, dass der präfrontale Kortex, der für Impulssteuerung zuständig ist, bei ADHS anders arbeitet. Dadurch kann es passieren, dass eine Aussage direkter oder härter klingt, als sie gemeint war, was man oft erst merkt, wenn das Gegenüber irritiert reagiert.

Gleichzeitig ist es nicht nur was man sagt, sondern auch wie man es sagt. Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS oft unbewusst eine schärfere oder hektischere Sprachmelodie haben. Das liegt daran, dass das Gehirn Informationen schneller verarbeitet und manchmal einfach „raushaut“, bevor es emotional angepasst wurde. Dadurch klingt man oft gereizter oder ungeduldiger, obwohl man es gar nicht ist. Erst wenn man die Reaktion des anderen sieht, kommt das schlechte Gewissen: „So war das doch gar nicht gemeint … bitte nicht falsch verstehen.“

Aber nicht nur das, was oder wie wir etwas sagen, kann zu Missverständnissen führen, sondern eben auch, wie wir Dinge auffassen. Denn genauso ungefiltert, wie wir manchmal sprechen, nehmen wir auch die Worte anderer auf. Ein Kommentar, der vielleicht neutral oder gut gemeint war, kann sich für uns plötzlich wie eine subtile Kritik oder Zurückweisung anfühlen. Nicht, weil wir absichtlich empfindlich sind, sondern weil unser Gehirn weniger Zeit hat, zwischen „harmlos“ und „bedeutungsvoll“ zu unterscheiden. Und genau da entsteht das nächste Problem: Während wir innerlich noch versuchen, die Emotion zu verarbeiten, wirkt es auf andere oft so, als würden wir uns grundlos angegriffen fühlen.

Was das Ganze noch schwieriger macht? Die Reaktionen von anderen. „Jetzt übertreib doch nicht!“„Du bist einfach zu sensibel.“, „Reg dich mal ab.“
Und genau das ist so frustrierend: Für andere wirkt es, als würde man ständig aus einer Kleinigkeit ein Drama machen. Aber das ist es nicht. Emotionen bei ADHS sind nicht künstlich verstärkt, sie sind einfach von Natur aus intensiver. Während andere noch abwägen, ob eine Situation sie überhaupt betrifft, trifft uns das Gefühl oft wie ein Schlag. Direkt, ungefiltert, ohne sanften Übergang.

Aber das ist nicht nur ein Nachteil. Es bedeutet auch, dass wir intensiver fühlen – in Begeisterung genauso wie in Verletzlichkeit. Was andere nur gedämpft wahrnehmen, trifft uns in voller Lautstärke. Das kann anstrengend sein, für uns selbst und für andere. Aber es bedeutet auch, dass wir mit ganzem Herzen dabei sind – in Gesprächen, in unseren Überzeugungen, in den Dingen, die uns bewegen. Und wenn man das einmal versteht, merkt man: Mehr fühlen heißt nicht automatisch übertreiben. Manchmal heißt es einfach nur, intensiver zu leben. Wie man diese Intensität als Stärke nutzen kann, habe ich übrigens in meinem Blogpost Emotionen als Wegweiser: Wie du sie richtig nutzt noch ausführlicher beschrieben.

Reizüberflutung und sensorische Sensitivität

ADHS bedeutet nicht nur, dass es schwer ist, sich auf etwas zu fokussieren. Meistens nimmt das Gehirn einfach zu viel wahr. Während andere mühelos unwichtige Geräusche oder visuelle Reize ausblenden, fühlt sich bei ADHS oft alles gleich laut, gleich hell, gleich wichtig an, und das kann richtig anstrengend werden.

Ein Beispiel? Wenn ich mit meinem Freund einen Film schaue, passiert es oft, dass mich plötzlich ein Geräusch stört, das so minimal leise ist, dass er es nicht mal wahrnimmt. Aber ich kann es einfach nicht ignorieren. Es nimmt meine komplette Aufmerksamkeit ein, bis ich den Film pausieren und herausfinden muss, woher es kommt. Vielleicht ein leises Summen irgendwo im Raum oder ein kaum hörbares Brummen, aber mein Gehirn hat es plötzlich auf dem Radar und weigert sich, es einfach auszublenden.

Und Geräusche sind nicht das Einzige, was mich reizüberfluten kann. Licht ist für mich genauso ein Thema. Das große Deckenlicht? Prinzipiell nie an. Zu grell, zu anstrengend. Lieber indirekte, warme Beleuchtung. Und Supermärkte? Ein absoluter Reiz-Horror. Die knallbunten Verpackungen, das grelle Licht, keine Fenster. Es fühlt sich an, als würde mein Gehirn gleichzeitig mit zu vielen Informationen bombardiert werden. Ich weiß, dass viele das einfach ausblenden können, aber für mich kann das schon mal richtig überwältigend werden. Vielleicht hat das auch mit meiner familiären Angststörung zu tun, aber Fakt ist: Mein Gehirn verarbeitet solche Reize anders und das macht es manchmal schwer, einfach „drüber hinwegzusehen“.

Dasselbe passiert mir manchmal auch mit Musik. Wenn ich z.B Auto fahre und mich konzentrieren muss, kann es sein, dass mir aus dem nichts der Sound zu viel wird. Was für andere einfach entspannte Hintergrundmusik ist, fühlt sich für mich in solchen Momenten an, als würde mein Gehirn gleichzeitig den Verkehr, meine eigenen Gedanken, das Gespräch mit dem Beifahrer und den Song im Radio verarbeiten müssen. Dann muss die Musik aus. Sofort.

Das zeigt, warum ADHS oft so anstrengend sein kann: Das Gehirn entscheidet nicht immer selbst, worauf es sich fokussiert. Es nimmt alles auf einmal wahr, und wenn es sich auf etwas festbeißt, dann mit voller Intensität. Während andere einfach im Moment bleiben, fühlt es sich für mich oft an, als würde mein Kopf versuchen, tausend Reize gleichzeitig zu verarbeiten und dabei völlig aus dem Takt geraten.

Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen

ADHS kann soziale Interaktionen auf eine sehr eigene Weise beeinflussen. Small Talk fühlt sich oft an wie eine langweilige Pflichtveranstaltung, während interessante Gespräche einen regelrechten Hyperfokus auslösen können.

Das Problem? Manchmal merkt man nicht, dass man das Gespräch gerade völlig an sich gerissen hat oder dass das Gegenüber vielleicht nicht die gleiche Begeisterung für das neu entdeckte Lieblingsthema teilt. Gleichzeitig kann das Gehirn mitten in einer Unterhaltung plötzlich abschalten und das nicht aus Desinteresse, sondern weil es einfach zu viele Informationen gleichzeitig verarbeiten muss.

Dazu kommt noch die Sache mit dem „Ins-Wort-Fallen“. Es ist nicht so, dass ADHSler unhöflich sein wollen sondern es passiert oft einfach. Wenn z.B jemand redet und mir dabei ein Gedanke kommt, der irgendwie dazu passt, muss ich ihn sofort sagen, sonst ist er weg. Das kann für andere total irritierend sein, weil es so wirkt, als würde man nicht richtig zuhören oder sich selbst wichtiger nehmen. Aber in Wirklichkeit bedeutet es genau das Gegenteil: Man versucht so aufmerksam zu sein, dass das Gehirn fieberhaft versucht, alle Informationen zu verarbeiten, nur leider etwas zu schnell.

Besonders in Gesprächen mit meinem Partner war das anfangs ein echtes Thema. Er hat es so wahrgenommen, als würde ich ihn nicht ausreden lassen oder ihm nicht richtig zuhören, dabei war das Gegenteil der Fall, ich war voll dabei. Inzwischen haben wir viel darüber gesprochen, und er versteht es mittlerweile besser, aber für Menschen, die den Grund dahinter nicht wirklich kennen, kann so ein Verhalten schnell missverstanden werden.

Perfektionismus und chronische Selbstzweifel

Perfektionismus betrifft sehr viele Menschen, nicht nur diejenigen mit ADHS. Aber wenn man ADHS hat, kommt noch eine zusätzliche Komponente dazu: die Schwierigkeit, Prioritäten zu setzen und den Absprung zu finden. Während Perfektionismus bei neurotypischen Menschen oft aus einem hohen Anspruch an sich selbst entsteht, wird er bei ADHS noch verstärkt durch das ständige Gefühl, dass etwas „noch nicht ganz richtig“ ist und durch das Gehirn, das sich nicht entscheiden kann, wann es gut genug ist.

Das ist einer der Hauptgründe, warum ich Dinge manchmal ewig vor mir herschiebe. Nicht, weil ich keine Lust habe sondern weil mein Kopf mir sagt, dass es erst dann zählt, wenn es perfekt ist. Gerade beim Schreiben hat mich das früher extrem blockiert. Ich habe Blogposts ewig überarbeitet, immer wieder nach Fehlern gesucht, an Formulierungen gefeilt, weil es sich nie ganz „richtig“ angefühlt hat. Und selbst wenn ich dachte, ich wäre fertig, habe ich oft noch gezögert, es wirklich zu veröffentlichen weil ich sicher war, dass es noch besser gehen könnte.

Das Problem dabei? Perfektionismus und ADHS sind eine verdammt toxische Kombi. Entweder ich hyperfokussiere und verliere mich stundenlang in Details, oder ich komme gar nicht erst ins Handeln, weil die Angst, es nicht gut genug zu machen, mich komplett blockiert. Das führt dann oft zu diesem absurden Kreislauf: Erst aufschieben, weil der Druck zu groß ist, dann in letzter Minute doch alles auf einmal machen, und am Ende trotzdem unzufrieden sein.

Und dann kommen die Selbstzweifel. ADHS bedeutet oft, dass man Dinge anders angeht als andere. Und wenn man ständig das Gefühl hat, nicht hinterherzukommen oder „mehr Zeit als andere“ zu brauchen, fängt man irgendwann an, an sich selbst zu zweifeln. Man sieht, wie andere scheinbar mühelos Dinge erledigen, während man selbst noch mit dem Gedankenringkampf beschäftigt ist, ob etwas gut genug ist oder nicht.

Perfektionismus mit ADHS ist definitiv eine Challenge, aber eine, mit der man lernen kann, umzugehen. Ich arbeite immer noch daran, mich nicht ewig an Kleinigkeiten aufzuhängen und einfach mal Dinge rauszuhauen, auch wenn sie nicht zu 100 % perfekt sind. Aber ganz ehrlich? Das bleibt eine tägliche Übung.

Die Stärken von ADHS: Mehr als nur eine „Störung“

ADHS

So, jetzt, wo wir uns die Herausforderungen mal genauer angeschaut haben und ein bisschen besser verstehen, warum ADHS so herausfordernd sein kann, wird’s Zeit für die andere Seite. Denn ja, ADHS bringt definitiv seine Tücken mit sich, aber es wäre unfair, nur über die Schwierigkeiten zu reden, ohne auch die Stärken zu erwähnen.

Viele von ihnen werden oft übersehen, weil sie nicht ins klassische Bild von „Produktivität“ oder „Effizienz“ passen. Aber wenn man einmal versteht, wie ADHS funktioniert, merkt man schnell: Es bringt auch Eigenschaften mit sich, die in vielen Situationen ein echter Vorteil sein können. Manche davon sind nicht direkt offensichtlich, aber sie machen uns in bestimmten Bereichen besonders.

Kreativität und Mut, Dinge anders zu machen

ADHS-Gehirne denken nicht in geraden Linien – sie springen, verknüpfen und kombinieren Ideen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Das macht kreatives Arbeiten oft besonders spannend. Während andere in gewohnten Mustern bleiben, bringt das ADHS-Gehirn gerne mal völlig unerwartete Lösungen hervor.

Ich merke das besonders, wenn ich brainstorme oder neue Projekte plane. Meine Gedanken wandern manchmal chaotisch, aber genau das führt oft zu den besten Einfällen. Plötzlich entstehen Verbindungen, auf die ich ohne dieses gedankliche Durcheinander vielleicht nie gekommen wäre.

Und genau hier zeigt sich eine der größten Stärken von ADHS: der Mut, Dinge anders zu machen. Denn wer anders denkt, muss oft auch anders handeln. Viele von uns haben gelernt, eigene Wege zu finden, weil die Standardmethoden einfach nicht funktionieren. Das zwingt uns, kreativ zu werden – nicht nur in unserer Arbeit, sondern auch im Leben.

Ob es darum geht, neue Lösungen zu entwickeln, innovative Ideen zu verfolgen oder sich nicht von gesellschaftlichen Normen einschränken zu lassen – Menschen mit ADHS denken oft „outside the box“, weil sie ohnehin nie wirklich in diese Box gepasst haben.

Hohe Empathie und intensives Erleben

Wir haben das Thema bereits angesprochen, aber jetzt schauen wir uns genauer an, warum Empathie und intensives Erleben eine der größten Stärken von ADHS sein können. Viele Menschen mit ADHS spüren Emotionen nicht nur, sie tauchen regelrecht in sie ein, ob es die eigenen sind oder die von anderen. Das kann herausfordernd sein, aber genau darin steckt auch ein enormes Potenzial. Denn wer tief fühlt, nimmt die Welt auf eine Weise wahr, die anderen oft verborgen bleibt.

1. Mitgefühl auf einer tiefen Ebene

Viele Menschen nehmen die Emotionen anderer nicht nur wahr, sondern fühlen sie oft so intensiv mit, als wären sie ihre eigenen. Das liegt daran, dass das ADHS-Gehirn Reize, und dazu gehören auch soziale und emotionale Signale, ungefiltert aufnimmt. Während andere vielleicht nur eine neutrale Aussage hören, erkennt jemand mit ADHS sofort den subtilen Unterton, die angespannte Körperhaltung oder das Zögern in der Stimme.

Das macht sie oft zu besonders empathischen Menschen, die gut darin sind, sich in andere hineinzuversetzen. Ob in Freundschaften, im Beruf oder in sozialen Interaktionen. Sie spüren intuitiv, wenn es jemandem schlecht geht, und reagieren oft mit echtem Mitgefühl.

2. Die richtigen Worte im richtigen Moment

Durch diese tiefe emotionale Wahrnehmung fällt es vielen ADHSlern leichter, in schwierigen Momenten die passenden Worte zu finden. Nicht, weil sie sich bewusst Gedanken darüber machen, sondern weil sie intuitiv fühlen, was der andere in diesem Moment wirklich braucht.

Das kann bedeuten, dass sie genau den richtigen Trost aussprechen oder in ernsten Situationen eine unerwartete Leichtigkeit einbringen, die Spannung löst. In Krisensituationen können sie eine starke emotionale Stütze sein, weil sie nicht nur verstehen, was gesagt wird, sondern auch das, was zwischen den Zeilen steht.

3. Intensives Erleben – eine Stärke in vielen Bereichen

Ja, intensive Emotionen können anstrengend sein. Aber sie bedeuten auch, dass Freude, Begeisterung und Leidenschaft genauso tief empfunden werden. Menschen mit ADHS können sich für Dinge begeistern, die andere vielleicht nur beiläufig wahrnehmen. Sie tauchen in ihre Interessen mit voller Energie ein, erleben Momente intensiver und lassen sich von positiven Erlebnissen richtig mitreißen.

Das zeigt sich ebenso oft in kreativen oder sozialen Berufen, wo ein hohes Maß an emotionaler Intelligenz und Begeisterung gefragt ist. Ihre Fähigkeit, tief zu empfinden, hilft ihnen dabei, inspirierend, motivierend und mitreißend zu sein.

4. Tiefe, ehrliche Verbindungen zu anderen Menschen

Weil sie Emotionen nicht oberflächlich erleben, bauen Menschen mit ADHS oft besonders enge und bedeutungsvolle Beziehungen auf. Sie hören nicht nur zu, sie fühlen mit. Sie erinnern sich (Paradoxerweise) oft an kleine Details, die andere vergessen. Sie haben eine starke Intuition dafür, was Menschen wirklich bewegt.

Diese Fähigkeit macht sie zu einfühlsamen Freunden, Partnern und Kollegen, die aufrichtig interessiert sind und ihre Mitmenschen oft auf einer tieferen Ebene verstehen. Während Small Talk sie oft langweilt oder herausfordert, sind sie in bedeutungsvollen Gesprächen voll präsent. Sie spüren, wenn jemand Unterstützung braucht, selbst wenn es nicht direkt ausgesprochen wird.

Natürlich kann diese emotionale Intensität manchmal auch herausfordernd sein, weil sie dazu neigen, sich stark in andere hineinzuversetzen und deren Emotionen mitzutragen. Doch genau das sorgt auch dafür, dass Menschen mit ADHS oft als authentisch, warmherzig und echt wahrgenommen werden.

Spontaneität und Anpassungsfähigkeit

Routine? Langweilig. Strikte Pläne? Kann funktionieren, muss aber nicht. Menschen mit ADHS sind oft extrem anpassungsfähig und können sich schnell auf neue Situationen einstellen.

Das zeigt sich besonders in Momenten, in denen Flexibilität gefragt ist. Während andere vielleicht erst einmal einen Plan brauchen, um sich sicher zu fühlen, können wir oft blitzschnell umdenken und reagieren. Spontane Ideen, Reisen, unvorhergesehene Situationen, Veränderungen? Klingt für viele stressig, für Menschen wie mich allerdings oft einfach nach Alltag.

Natürlich kann das manchmal chaotisch wirken, aber es bedeutet auch, dass wir mit Herausforderungen oft besser umgehen können, als wir selbst denken. Weil unser Gehirn ohnehin daran gewöhnt ist, immer wieder neue Wege zu finden.

Hyperfokus – wenn es klick macht

Dass ADHS weit mehr ist als nur eine Konzentrationsstörung, haben wir inzwischen geklärt. Es geht nicht nur darum, dass der Fokus schwer zu steuern ist, sondern auch darum, dass er sich manchmal wie von selbst auf eine einzige Sache festbeißt. Und wenn das passiert, gibt es kaum ein Entkommen.

Ich kenne das nur zu gut. Sobald mich ein Thema wirklich begeistert, kann ich stundenlang darin versinken. Ich recherchiere, verliere das Zeitgefühl und tauche komplett ab – wie in ein Rabbit Hole, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Genau das ist Hyperfokus. Einerseits kann er unglaublich produktiv sein, andererseits auch erschöpfend, weil ich ihn nicht bewusst ein- oder ausschalten kann.

Dieses intensive Eintauchen in eine Sache kann also Fluch und Segen zugleich sein. Wenn der Fokus auf einer wichtigen Aufgabe liegt, kann ich damit in kürzester Zeit unglaublich viel erreichen. Aber genauso kann es passieren, dass ich völlig in ein Thema versinke, das mich gerade fasziniert – egal, ob es mir langfristig etwas bringt oder nicht.

Eine Konstante in meinem Leben ist übrigens das Schreiben. Es begleitet mich schon seit meiner Kindheit – sei es in Form von Tagebucheinträgen oder spontanen Gedankennotizen. Erst später wurde mir bewusst, warum ich es so sehr liebe: Weil ich mich schriftlich oft viel klarer ausdrücken kann als beim Reden.

Mein Kopf produziert ständig neue Gedanken, und wenn ich spreche, verliere ich oft den roten Faden, weil mein Gehirn schon zehn Schritte weiter ist. Schreiben gibt mir die Möglichkeit, meine Gedanken zu ordnen, meine Ideen festzuhalten und sie für mich selbst, aber auch für andere verständlicher zu machen.

Viele große Ideen und kreative Meisterwerke sind genau aus diesem unaufhaltsamen Tunnelblick entstanden. ADHS bedeutet also nicht nur Ablenkung – es bedeutet auch, sich mit voller Intensität auf eine Sache einzulassen. Und wenn es klick macht, dann richtig.

Kein Wunder, dass viele kreative Köpfe offen über ihre ADHS-Diagnose gesprochen haben. Schauspieler wie Jim Carrey, Emma Watson und Johnny Depp haben darüber berichtet, wie ADHS ihre Art zu denken und zu arbeiten beeinflusst. Das zeigt, dass ADHS nicht nur eine Herausforderung ist, sondern auch eine enorme Stärke sein kann, wenn man lernt, diesen Fokus in die richtigen Bahnen zu lenken.

Risikobereitschaft und Abenteuerlust – Das Paradoxon von Perfektionismus und Spontaneität

ADHS steckt voller Widersprüche, und einer der spannendsten ist dieser: Man kann gleichzeitig perfektionistisch und impulsiv sein. Einerseits gibt es diese Momente, in denen man eine Aufgabe ewig vor sich herschiebt, weil sie „noch nicht gut genug“ ist. Andererseits gibt es Situationen, in denen eine spontane Idee so verlockend ist, dass man sie ohne großes Nachdenken sofort umsetzt.

Das klingt erstmal unlogisch – Perfektionismus bedeutet doch, alles bis ins kleinste Detail zu durchdenken, während Impulsivität für spontane Entscheidungen ohne viel Planung steht. Aber genau diese Kombination kann eine riesige Stärke sein. Perfektionismus sorgt dafür, dass Menschen mit ADHS hohe Ansprüche an sich selbst haben und sich in ihre Projekte richtig reinknien. Gleichzeitig bringt die Impulsivität eine Offenheit für neue Wege mit sich. Das kann dazu führen, dass sie mutige Entscheidungen treffen, die andere sich vielleicht nicht trauen würden.

Viele ADHSler sind von Natur aus neugierig, abenteuerlustig und immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen. Sie fühlen sich schnell gelangweilt, wenn alles vorhersehbar ist, und blühen in Situationen auf, in denen sie neue Erfahrungen machen können. Während andere vielleicht lange abwägen, springen sie ins Unbekannte – nicht, weil sie nicht über Risiken nachdenken, sondern weil ihr Drang, etwas zu erleben, oft größer ist als die Angst vor dem Unbekannten.

Ich kenne das von mir selbst. Ich bin mit 15 nach China gezogen, habe in Miami gelebt, bin im Familienbetrieb eingestiegen – alles Entscheidungen, die ich nicht bis ins letzte Detail durchgeplant habe, sondern bei denen ich einfach gespürt habe: Das fühlt sich richtig an. Diese Einstellung hat mich so geprägt, dass ich mir sogar ein „Yes-Tattoo“ stechen ließ – inspiriert von Yes Theory, die die Philosophie verfolgen, mutig ins Ungewisse zu springen und „Ja“ zu neuen Erfahrungen zu sagen.

Und genau das ist eine der größten Stärken von ADHS: Diese Mischung aus Neugier, Mut und intuitiven Entscheidungen. Während andere lange überlegen, springen ADHSler durch ihre Intuition oft einfach ins kalte Wasser, und genau dadurch erleben sie Dinge, die sie sonst vielleicht verpasst hätten. Und selbst wenn mal etwas schiefgeht? Dann wird eben umgedacht und der nächste Weg ausprobiert.

Sinn für Humor und originelle Sichtweisen – Wenn Verpeiltheit zur Comedyshow wird

Jeder Mensch hat seinen eigenen Humor, klar. Aber bei ADHS kommt oft noch eine besondere Komponente dazu: die unvorhersehbaren Gedankensprünge, die spontane Art zu denken und ja – manchmal auch die (charmante) Verpeiltheit.

Das liegt daran, dass das ADHS-Gehirn Informationen anders verarbeitet. Während andere einen Gedanken logisch zu Ende führen, macht das ADHS-Gehirn plötzlich einen ungewollten Abstecher zu einem völlig anderen Thema. Es springt, verknüpft Dinge, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, und landet dann manchmal bei einer Pointe, die so absurd ist, dass sie genau deshalb witzig ist.

Genau das sorgt oft für einen einzigartigen Humor. ADHSler denken in Assoziationen, schneller als sie manchmal selbst mitkommen. Eine harmlose Bemerkung kann in ihrem Kopf eine Kettenreaktion auslösen, die plötzlich in einem völlig unerwarteten, aber dafür lustigen Kommentar endet. Andere denken vielleicht noch über den ersten Satz nach, während das ADHS-Gehirn schon drei Schritte weiter ist , oft in eine Richtung, die keiner vorhergesehen hat.

Dazu kommt: Humor ist oft eine Strategie, um mit der eigenen Verpeiltheit umzugehen. Man könnte sich darüber aufregen, dass die einzelnen Kopfhörer mal wieder unterm Bett gelandet sind und nicht in ihrer Hülle wo sie hingehören oder man lacht darüber, weil es eh nichts mehr bringt. Viele ADHSler haben gelernt, sich selbst mit Humor zu nehmen, weil ihr Alltag manchmal wirkt wie eine Impro-Comedy-Show, bei der das Skript ständig verloren geht.

Und genau das ist die Stärke: Mit Humor durchs Leben zu gehen, Situationen auf unerwartete Weise zu betrachten und andere mit spontanen, kreativen Gedankensprüngen zu überraschen. Denn wenn das Gehirn eh schon seine eigene, unberechenbare Show abzieht, kann man es auch einfach mit Humor nehmen, denn das macht vieles leichter und oft auch einfach unterhaltsamer. Und das gilt für alle Menschen.

Warum eine späte Diagnose oft ein „Aha“-Moment ist

Viele Erwachsene erhalten ihre ADHS-Diagnose erst spät, oft nach Jahren voller Selbstzweifel, in denen sie sich gefragt haben, warum sie manche Dinge nicht so hinbekommen wie andere. Und dann kommt plötzlich dieser eine Moment, in dem alles Sinn ergibt.

Plötzlich versteht man, warum Routinen so schwer einzuhalten sind. Warum man oft erst unter Druck funktioniert. Warum es unmöglich erscheint, Prioritäten zu setzen, wenn das Gehirn alles gleichzeitig wichtig findet. Warum die Gedanken ständig springen und Emotionen manchmal so intensiv sind. Eine Diagnose kann ein echter Wendepunkt sein und das nicht, weil sie das Problem löst, sondern weil sie eine Erklärung liefert.

Ich kann wirklich jedem, der den Verdacht hat, ADHS zu haben, nur ans Herz legen, sich damit auseinanderzusetzen und eine offizielle Diagnose in Betracht zu ziehen. Es kann dein Leben um einiges verbessern, weil du endlich verstehst, warum dein Gehirn so tickt, wie es tickt, und weil du dann gezielt Strategien entwickeln kannst, um damit umzugehen. Sei es medikamentös, durch Therapie oder durch andere Wege, die für dich funktionieren, das bleibt jedem selbst überlassen.

Genauso wichtig ist es aber auch für Angehörige, das Thema ernst zu nehmen. Wenn du merkst, dass jemand in deinem Umfeld möglicherweise ADHS hat oder sich damit schwer tut, unterstütze diese Person. Ermutige sie, sich tiefer mit der Thematik auseinanderzusetzen und gegebenenfalls eine Diagnose zu bekommen. Oft nehmen Betroffene ihre eigenen Schwierigkeiten gar nicht bewusst als ADHS wahr, weil sie ihr ganzes Leben lang gelernt haben, sich anzupassen, und genau da kann Aufklärung einen riesigen Unterschied machen.

Fazit: ADHS verstehen und für sich nutzen

ADHS ist nicht nur eine Diagnose, sondern eine einzigartige Art zu denken und die Welt wahrzunehmen. Es beeinflusst, wie wir fühlen, arbeiten und mit anderen interagieren. Für viele Betroffene bringt das ein Leben voller Widersprüche mit sich: kreative Höhenflüge und lähmender Perfektionismus, Abenteuerlust und Überforderung, tiefe Empathie und emotionale Intensität. All das macht ADHS so vielschichtig, aber genau deshalb ist es auch so wichtig, es nicht nur als Hindernis zu sehen, sondern als eine Art, die Welt auf eine besondere Weise zu erleben.

Gesellschaftliche Stigmatisierung und Selbstzweifel hinter sich lassen

Die gesellschaftliche Stigmatisierung von ADHS führt dazu, dass viele Betroffene sich jahrelang unverstanden fühlen. Sie hören, dass sie sich „einfach nur mehr anstrengen“ sollen oder dass ihre Schwierigkeiten „keine echte Diagnose“ rechtfertigen. Genau das sorgt für tief sitzende Selbstzweifel, die sich auf das gesamte Leben auswirken können.

Doch nur, weil die Gesellschaft ADHS oft nicht richtig versteht, bedeutet das nicht, dass man sich selbst immer wieder in Frage stellen muss. Aufklärung und Selbstreflexion helfen, diese negativen Glaubenssätze loszulassen und anzuerkennen, dass man nicht faul, unzuverlässig oder „nicht gut genug“ ist, sondern dass das Gehirn einfach anders funktioniert.

ADHS im Beruf und in Beziehungen – Herausforderungen und Stärken

ADHS kann sich auf alle Lebensbereiche auswirken, besonders auf die Arbeit und das soziale Umfeld. Im Berufsleben kann es herausfordernd sein, sich in starre Strukturen einzufügen, aber gleichzeitig gibt es viele Berufe, in denen ADHS-Stärken wie Kreativität, schnelles Denken und Mut gefragt sind.

In Beziehungen kann Impulsivität manchmal für Missverständnisse sorgen, aber die emotionale Tiefe und Empathie machen ADHSler oft zu besonders aufmerksamen und leidenschaftlichen Partnern und Freunden. Wer sich seiner eigenen Verhaltensmuster bewusst ist, kann lernen, besser damit umzugehen, sei es durch klare Kommunikation, Routinen oder individuelle Strategien.

Selbstakzeptanz als Schlüssel

Genau deshalb ist es so wichtig, sich selbst nicht nur durch die Herausforderungen von ADHS zu definieren, sondern auch die Stärken anzuerkennen. Selbstakzeptanz bedeutet nicht, die Schwierigkeiten zu ignorieren, es bedeutet, sich selbst zu verstehen und Wege zu finden, mit den eigenen Besonderheiten umzugehen, ohne sich ständig mit neurotypischen Maßstäben zu messen.

Jeder Mensch verdient es, sich in seiner eigenen Haut wohlzufühlen und genau da fängt alles an. Wer lernt, ADHS nicht als Defizit, sondern als individuellen Teil seiner Persönlichkeit zu sehen, kann aufhören, gegen sich selbst zu kämpfen. Denn wenn man einmal aufhört, sich selbst als „kaputt“ oder „falsch“ zu sehen, kann man beginnen, das volle Potenzial auszuleben, mit all seinen Herausforderungen, aber auch mit all seinen Stärken.

Ein letzter Gedanke: Ist „ADHS“ überhaupt der richtige Name?

Mal ehrlich, der Begriff Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist doch total irreführend. Er klingt, als würde irgendwas fehlen oder nicht richtig funktionieren, dabei ist das Gegenteil der Fall. Das Gehirn nimmt einfach zu viel wahr, verarbeitet Infos anders und springt schneller zwischen Gedanken. Kein Wunder, dass viele Leute ADHS komplett falsch verstehen.

Vielleicht wäre ein neuer Name längst überfällig. Neurodivergente Reizverarbeitung (NRV) oder vielleicht Vielseitige Kognitive Verarbeitung (VKV). Hauptsache irgendwas, das nicht direkt nach „Störung“ klingt. Wäre doch mal ne Idee, oder?

Aber egal, wie man es nennt. Es macht dich nicht weniger wertvoll, nicht weniger fähig und schon gar nicht weniger du selbst. Lerne, mit deinem Gehirn zu arbeiten, anstatt gegen es und du wirst erstaunt sein, was alles möglich ist.

Alles Liebe und bis zum nächsten Mal,
Deine Alice 🤍✨

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